Die Stiftung Chance für das kritisch kranke Kind finanziert als eines ihrer wichtigsten Engagements die Kunst- und Ausdruckstherapie am Kinderspital Zürich. Dieses Angebot wird ergänzt durch Musiktherapie. Interview mit Musiktherapeutin Rachel Gotsmann.
Initiiert wurde das Angebot von Prof. Vera Bernet, unserer ehemaligen Stiftungsratspräsidentin und verantwortlichen Ärztin der Abteilung Neonatologie. Sie ist überzeugt von der positiven Wirkung therapeutisch eingesetzter «Musik» bei neu- und frühgeborenen Kindern. Im Herbst 2016 hat deshalb die spezialisierte Musiktherapeutin Rachel Gotsmann ihre Arbeit am Kinderspital Zürich aufgenommen. Sie arbeitet in einem Teilzeitpensum, das durch die Stiftung Chance im Rahmen deren Angebot «Kunst- und Ausdruckstherapie» finanziert wird.
Frau Gotsmann, Musik für Frühgeborene? Ist das nicht übertrieben? Und spielen Sie Ihnen Klassik oder Hiphop vor?
Rachel Gotsmann: Übertrieben ist das auf keinen Fall! Und ich spiele ihnen auch keine Musik vor. Gerade ihre noch wenig ausgebildeten Hörnerven dürfen nicht überfordert werden durch zu intensive Geräusche bzw. Töne in für sie noch ungeeignet hohen Frequenzen, wie sie Musikinstrumente erzeugen. Im Mutterleib hören Ungeborene nur die tiefen Frequenzen.
Worum geht es bei den Therapiesitzungen?
Durch die Musiktherapie sollen sich Neu- und Frühgeborenen in der verwirrenden Umgebung, in der sie – vielleicht gar durch einen Kaiserschnitt – gelandet sind, zurechtfinden. Töne helfen ihnen dabei, ihren Rhythmus zu finden. Rhythmus kennen wir alle seit einem sehr frühen Zeitpunkt in der Schwangerschaft; durch die Herztöne der Mutter, durch deren Magengeräusche, aber auch durch Musik und Gespräche, die wir im Uterus mithören. Das Gehör entwickelt sich beim Menschen am frühesten.
Dann ist Musiktherapie für Frühgeborene eine Art Orientierungshilfe?
Rhythmus strukturiert unser Leben: der Tag- und Nachtrhythmus, der Rhythmus unserer Schritte, unseres Pulses, die Schwingungen von Tönen. Rhythmus und Struktur vermitteln uns das Gefühl von Sicherheit. Durch rhythmische Töne gebe ich den Frühgeborenen das Gefühl von Struktur und damit von Sicherheit und Geborgenheit. Die meisten von ihnen müssen teils belastende medizinische Behandlung über sich ergehen lassen und fühlen sich dadurch und durch die dabei unvermeidlichen Schmerzen verstört. Rhythmus hilft ihnen in dieser fremden Welt.
Welche Art von Musik kommt in Ihren Therapiesitzungen zum Einsatz?
Als erstes lege ich meine Hand auf das Kind, suche den Körperkontakt. Ich sage ihm, was ich gerade mache, dass ich ihm vorsingen werde. Ich achte auf den Atem des Neugeborenen und summe lange Töne. Dadurch bekommt das Kleine einen Orientierungspunkt in der Stille, aber auch stressigen Situation auf der Neonatologie. Das Kind geht auf die Töne ein, findet dabei seinen Rhythmus. Als zweiten Kontakt finden wir uns im gemeinsamen Atmen, das sich durch das Summen ergibt. Wenn das Kind seinen Atem verlangsamt, gehe ich mit meinen Tönen mit, verlangsame ebenfalls, sodass es zur Ruhe kommen kann.
Wie oft arbeiten Sie mit den Kleinsten?
Ich besuche Kinder, die durch einen komplizierten Krankheitsverlauf länger auf der Neo hospitalisiert sind, meist zweimal pro Woche. Eine wichtige Rolle kommt aber auch den Eltern zu, die über ihre Mithilfe in der Musiktherapie die wichtige Eltern-Kind-Beziehung aufbauen und festigen. Ich zeige ihnen, wie sie für ihre Kinder summen und so einen Kontakt zu ihnen herstellen können, gerade wenn sie das Kleine vielleicht nicht aus dem Bettchen nehmen dürfen. Das ist ein Gebiet, auf dem ich gerne weiter forschen, meine Erfahrung einbringen möchte.
Wie reagieren die Kleinen auf die Musiktherapie?
Es ist oft ganz erstaunlich und sehr beeindruckend, wie sich selbst sehr junge Frühgeborene ihres eigenen Atems bewusst werden. Sie lernen durch den Rhythmus des Atmens, der ihnen über die Summtöne bewusst wird, dass sie ihren Atem selbst regulieren und sich dadurch beruhigen können. Sie spüren dadurch ihren eigenen Körper, können selbst bei sich eine Veränderung bewirken. Dieses Gefühl ist enorm wichtig, weil es die Kinder über die Machtlosigkeit erhebt, die sie angesichts ihrer Situation auf der Neo erleben.
Wie ist die medizinische Wirkung der Musiktherapie einzuschätzen?
Die Entwicklung des Gehirns ist bei Frühgeborenen noch nicht abgeschlossen. Auf der Neonatologie erleben diese Kleinsten zudem viel Stress, sind desorientiert. Die Energie, die eigentlich für die Hirnentwicklung gebraucht würde, wird zur Stressbewältigung abgezogen. Sie fehlt dem Hirn. Erkenntnisse aus der Hirnforschung lassen vermuten, dass die Gehirnentwicklung in den letzten zwei Schwangerschaftsmonaten einen grossen Schritt macht. Musiktherapie kann dem Gehirn helfen, sich zu regenerieren und nachzuwachsen. Somit ist Musiktherapie einerseits eine Orientierungshilfe im Stress, den Frühgeborene erleben, dient zudem aber auch dem Gehirn seine Entwicklung zu vervollständigen.
Sie arbeiten am Kinderspital Zürich ausschliesslich mit Frühgeborenen. Sind Sie darauf spezialisiert?
Ja, das hat sich so entwickelt, entspricht meinem Interesse und meinen gewonnenen Erfahrungen. Ich habe in England Musik studiert und mich danach in Deutschland zur Musiktherapeutin weitergebildet. Die Ausbildung basierte stark auf Musik, stellte beispielsweise hohe Anforderungen an meine Fähigkeiten als Pianistin, und hatte erst in zweiter Linie einen therapeutischen Ansatz. Musik ist in unserem Leben wichtig. Jeder Mensch singt. Egal, ob gut oder schlecht, schön oder falsch. Alle Naturvölker kennen Musik und Gesänge. Musik ist etwas Elementares und da kommen wir zurück auf den Rhythmus, die Struktur, die für uns Menschen wichtig sind.
Das klingt jetzt sehr philosophisch ...
Ja, aber es stimmt doch – Musik beschwingt, befreit, versöhnt. Das erlebe ich mit den Neu- und Frühgeborenen ganz intensiv. Wenn ich nicht am Kinderspital auf der Neo summe, singe ich mit meinen drei Teenagern Rocksongs. Singen, Musik, Rhythmus sind auch mein Leben!