Die Musiktherapeutin Rachel Gotsmann arbeitet in einem Teilzeitpensum am Kinderspital Zürich. Ihre Stelle wird durch die Stiftung Chance im Rahmen der Angebot «Kunst- und Ausdruckstherapie» finanziert.
Sie stellt fünf Patient*innen vor.
Salley Gardens für Irina
Musiktherapie für Neugeborene bezieht immer auch die Eltern mit ein. Sie können über gesungene Töne und Lieder mit ihrem Kind in Kontakt kommen, es beruhigen. Beim ersten Gespräch fragt die Musiktherapeutin Irinas* Mutter nach deren Musikgeschmack. Die Mutter erzählt, dass sie in einem Chor singt. Im Moment übe dieser ein schönes keltisches Lied ein. Durch die kritische Krankheit von Irina kann sie leider nicht mitmachen. Rachel Gotsmann, Engländerin und in ihrer Freizeit Sängerin in einer Band, errät den Song auf Anhieb. Gemeinsam singen sie «Salley Gardens» für Irina. Ein beglückender Moment der Normalität und Intimität im Spitalalltag.
«Therapie ist immer Beziehungsarbeit. Beim Kind gibt es den Zugang über seine Atmung. Die Eltern muss ich oft erst "abholen", Vertrauen schaffen. Das geht oft über ein Gespräch über Geburt, Schwangerschaft oder ihre Vorlieben bei der Musik»
Lukas’ Husten wird Soundeffekt
Lukas* ist acht Jahre alt und leidet an einer Stoffwechselerkrankung. Er ist immer wieder zur Behandlung im Kinderspital. Dass er seine Bewegungen, aber auch seinen Husten nicht kontrollieren kann, stresst ihn. Musiktherapeutin Rachel Gotsmann integriert seinen Husten geschickt in ein Lied. Beim bekannten Kinderlied «I-A, ja,ja» von Andrew Bond heisst der Refrain jetzt passend für Lukas «Hust, hust, ja, ja». Lukas kann seinen Husten, der ihn so ärgert, als Geräusch und wichtigen Bestandteil ins Lied einbringen. Therapeutisch wertvoll ist dabei Lukas’ Erfahrung, sein Problem als etwas Positives zu erleben und einsetzen zu können. Lukas’ Husten ist verknüpft mit der Angst, nicht atmen zu können. Diese Angst wird durch das positive Erleben des Hustens reduziert.
«Auch medizinische Probleme können in der Musiktherapie direkt angegangen werden.»
Musiktherapie wird zur Sterbebegleitung
Der kleine Tommy* kommt mit schweren Herzproblemen zur Welt. Kurz nach der Geburt tritt Rachel Gotsmann erstmals an sein Bettchen auf der Neonatologie. Sie achtet auf seine Atmung, summt ihm sachte Töne vor. Dies soll ihm helfen, sich in der fremden, beängstigenden Umgebung zu orientieren. Tommy muss verschiedene Eingriffe über sich ergehen lassen, wird von der Neonatologie auf verschiedene Stationen verlegt. Rachel Gotsmann ist ein oder zweimal in der Woche bei ihm für eine Therapiesitzung. Als Tommy älter wird, passt sie die Therapie an, um die Entwicklung des kleinen Patienten zu unterstützen. Instrumente und eine Rassel kommen zum Einsatz. Tommy reagiert aufmerksam. Der Kleine ist fröhlich, freut sich über die Töne, beweist Humor. Es sind schöne Erlebnisse, welche Mutter, Kind, aber auch die Therapeutin geniessen. Dann verschlechtert sich Tommys Zustand. Der Kleine wird palliativ versorgt. Rachel Gotsmann besucht ihn weiterhin regelmässig. Ihre Musiktherapie wird zur Sterbebegleitung und auch zur Begleitung der Familie, die unendlich traurig Abschied nehmen muss. Rachel Gotsmann spielt Musik vor, spürt, wie alle zur Ruhe kommen. Tommy reagiert auf die Klänge. In diesen kurzen, wachen Momenten schimmern nochmals sein Humor und seine Freude durch. Tommy ist friedlich verstorben.
«Trotz einer herausfordernden Situation kann Musiktherapie für positive Erinnerungen sorgen.»
Arabelles musikalische Mutter
Arabelles* Mutter stammt nicht aus Europa. Rachel Gotsmann besucht das neugeborene Mädchen in kritisch krankem Zustand auf der Neonatologie, summt für sie, kann es beruhigen und unterstützen. Zur Mutter jedoch findet die Musiktherapeutin keinen Draht. Drei Monate lang ist man höflich, wenn man sich begegnet. Eines Tages nimmt Rachel wieder einen Anlauf und schlägt der Mutter erneut ein Lied vor, dass sie gemeinsam für Arabelle singen könnten. Die Mutter hört die ersten Klänge und ist plötzlich wie verwandelt. Dieses Lied ist es! Die beiden Frauen singen gemeinsam und dabei ist spürbar, wie sich die Mutter öffnet, zu sich selbst findet. Jetzt, so erklärt sie erleichtert, könne sie hier im Spital diese Krise mit ihrer Tochter «überleben». Mit dem Lied sind alle Berührungsängste von der Mutter abgefallen. Zuvor traute sie sich kaum, das Kind im Bettchen anzufassen. Jetzt singt sie leidenschaftlich für Arabelle, unterstützt das schwerkranke Kind und hält mit ihm auf wundervoll intensive Weise Kontakt.
«Ich habe mich auf die Arbeit mit Neugeborenen spezialisiert. Vielleicht bekomme ich bald eine Kollegin, die für die grösseren, kritisch kranken Kinder Musiktherapie anbieten kann.»
Sandras Vater, der Sänger
Als Rachel Gotsmann die kritisch kranke Sandra* besucht, die auf der Neonatologie liegt, ist diese wenige Tage alt. Die Eltern reagieren skeptisch. Musiktherapie? «Ja, ok, machen Sie halt», findet der Vater. Schon während der Schwangerschaft war klar, dass Sandras Hirn beeinträchtig sein würde. Drei Wochen schwebt die Kleine in kritischem Zustand. Niemand weiss, ob sie überleben wird. Anspannung und Stress der Eltern sind riesig. Und da kommt schon wieder diese Musiktherapeutin. Rachel Gotsmann spielt für Sandra auf dem Monochord. Das vielsaitige Resonanzinstrument zaubert lange, beruhigende Töne. Der Vater, seine winzige Tochter auf der Brust, beginnt plötzlich zu singen. Er singt Sandra vor, was sie gemeinsam erleben werden, wenn sie weiter lebt. Wie sie zusammen auf den Spielplatz gehen, wie ihr Götti zu Besuch kommt, wie sie im Wald Würste bräteln. Dabei laufen ihm die Tränen übers Gesicht. Rachel Gotsmann hat Hühnerhaut und spielt einfach weiter. Jetzt nur nicht stören.
Sandra überlebt. Acht Monate alt kommt sie mit ihren Eltern zu Besuch ins Kinderspital. Der Vater bestätigt, das Singen sei eine Wende gewesen. Nachher ging es mit Sandra aufwärts. Er wird sich ein Leben lang daran erinnern, ist sich Rachel Gotsmann sicher. Sie nennt es ein Highlight ihres Berufs, solche Moment miterleben zu dürfen.
* Alle Namen geändert. Die Zitate stammen von Rachel Gotsmann.