Stiftung Chance für das kritisch kranke Kind

Marios Welt

Anfang August 1997 erfahren Teresa und Gerardo, dass ihr ungeborenes Kind eine Missbildung am Kopf hat. Mario wird zwei Wochen später mit Kaiserschnitt geboren. Unterhalb der hübschen dunklen Augen sind Wangen und Unterkiefer unförmig vergrössert. Mario leidet an einer ausgedehnten, mutilierenden lymphatischen Malformation.

Als lymphatische Malformation wird eine missgebildete Erweiterung der Lymphgefässe bezeichnet. Die mehrkammerigen Hohlräume, in denen sich Flüssigkeit sammelt, zeigen sich durch Schwellungen, häufig im Gesicht. Weichteile, aber auch Knochen können betroffen sein, oft kann der Mund nicht geschlossen werden.

Der Neugeborene bekommt fast keine Luft. Die Fehlbildung wirkt sich nicht nur äusserlich aus, sondern betrifft auch Marios Gaumen und Zunge. Der Kleine muss auf die Intensivstation. Er hat Mühe zu atmen, bekommt eine Kanüle. Ständig bildet sich Sekret in Marios Gaumen. Die Kanüle wird im zehn Minutentakt kontrolliert, damit der Säugling nicht erstickt. Nach drei Monaten ist es soweit. Mario darf nach Hause. Die Eltern haben die Kanülenpflege im Griff. Trotzdem erlebt die Familie, zu der auch Marios ältere Schwester Vanessa zählt, eine schwere Zeit. Die Mutter schläft in den ersten Monaten und Jahren auf einem Klappbett neben Marios Bettchen. Eigentlich schläft sie nicht, sondern hört auf die Atemzüge des Kleinen. Vater Gerardo ist Koch und deshalb abends erst spät zu Hause. Drei Nächte pro Woche übernimmt die Spitex zur Entlastung die anstrengende Nachtwache.

Operation folgt Operation

Nach zwei Wochen wird Mario zum ersten Mal am Kinderspital Zürich operiert. Dem Arzt gelingt es, etwa die Hälfte der Hohlräume in Marios rechter Gesichtshälfte zu entfernen. Die Eltern sind erleichtert, schöpfen Hoffnung. Als Mario zweieinhalb Jahre alt ist, stellen sie ihn einer Kapazität vor. Der Professor verspricht wahre Wunder. Mario werde auf die Kanüle verzichten können. Doch nach der zweiten Operation ist kaum ein Unterschied zu sehen. Im Gegenteil. Marios rechte Gesichtshälfte ist gelähmt. Er kann sein Auge nicht mehr schliessen. Bei der Operation wurden Nerven durchtrennt. Der Professor ist für die Eltern nicht mehr zu sprechen. Dass Marios Kanüle bleiben muss, teilt ihnen ein Oberarzt mit. Mario kann die Spielgruppe im Quartier besuchen. Wenn Kinder und Eltern ihn zum erstem Mal sehen, erschrecken sie. Dann aber gehört Mario rasch dazu. Die Spielgruppenleiterin lernt, auf die Kanüle zu achten.

Mutter Teresa kämpft wie eine Löwin für ihren Mario. Die beiden verbindet eine grosse, tiefe Zuneigung und gegenseitige Bewunderung. Eindrücklich spürbar für alle, die sie kennenlernen. Teresa forscht im Internet, hört sich in Foren Betroffener um. In Boston gibt es einen Arzt, der für seine Erfolge in der operativen Entfernung von lymphatischen Malformationen bekannt ist. Marios Krankenakte wird nach Boston geschickt. Dort plant die Krankenhaus-Administration den Eingriff. Familie Censale reist nach Boston. Sie treffen den Professor, der sich Mario ansieht und verspricht, sich mit dem Fall eingehend auseinander zu setzen. Allerdings hat die Administration die Operation bereits auf den folgenden Tag angesetzt. Der Arzt steht zwölf Stunden am Operationstisch. Das Resultat ist gleich Null.

Mario kommt in den Kindergarten, später in die Schule. Er findet Freunde, ist mit seinen Kollegen im Quartier unterwegs, spielt gern Fussball, trainiert Handball. Leider ist Mario auch häufig krank. Infekte setzen ihm zu. Da seine Zunge seit der zweiten Operation in einem ungünstigen Winkel im Mund steht, kann sich Mario nur schwer verständlich machen. Sein Mund schliesst sich nicht.

Als Mario elf ist, erfahren die Eltern, dass an der Philipps-Universität in Marburg ein Fachbereich zur Behandlung lyphatischer Malformation besteht. Sie wollen einen weiteren Versuch wagen. Die Ärzte am Zürcher Kinderspital sind wenig begeistert. Sie empfehlen zuzuwarten, bis Mario sechzehn und sein Kiefer ausgewachsen ist. Eine neue Ärztin am Kinderspital startet den Versuch, der Malformation mit Sklerosierung beizukommen. Die Behandlung bewirkt nichts.

Es gibt verschiedene Behandlungsmöglichkeiten der lymphatischen Malformation. Neben operativem Entfernen und dem Einsatz von Laser werden medikamentöse Therapien (Sklerosierung) eingesetzt. Dabei wird eine irritierende Lösung gespritzt, welche die Hohlräume zusammenziehen und vernarben lässt.

Genug ist genug

Mario hat wieder einmal eine Infektion. Die Antibiotika wirken nicht. Schliesslich hängt Mario im Kinderspital an der Infusion. Und: Mario hat genug. Er will nicht immer wieder krank sein. Er will überhaupt nicht mehr. Mario reisst sich die Schläuche heraus. Eltern und Ärzte schrecken auf. Sie erkennen, wie schwer dem Jungen das Warten auf die nächste Operation fällt, wie lange er schon mit der Hoffnung auf ein kleineres Gesicht, eine funktionalere Zunge leben muss. Kinderspital und Eltern planen die nächsten Schritte. Das Vascular Birthmark Institut in New York mit Dr. Milton Waner und seinen Kolleginnen und Kollegen gehört zu den weltweit führenden Institutionen auf dem Gebiet.

New York und weiter

Regula Wälchli, Oberärztin Dermatologie am Kinderspital Zürich, begleitet Mario und seine Eltern nach New York. Im November 2013 treffen sie Dr. Milton Waner und Dr. Teresa O. Sie bleiben eine Woche und besprechen die Möglichkeiten. Im April 2014 wird Mario von Dr. Waner operiert. Die Operation dauert viereinhalb Stunden. Sie ist erfolgreich. Vier bis fünf weitere Eingriffe werden geplant. Mit jedem soll ein weiteres Stück von Marios unterer Gesichtshälfte entfernt werden. Drei Tage nach der Operation wird Mario aus dem Krankenhaus entlassen. Er besucht die Freiheitsstatue.

Anfang August 2014 ist die nächste Operation geplant. Dr. Waner und sein Team wollen diesmal nicht nur Gewebe entnehmen, sondern auch Zunge und Kiefer verkleinern. Die IV tut sich schwer zu entscheiden, ob sie für den Eingriff aufkommen muss. Unbegreiflich. 

Mario hat ein bisschen Angst vor der Operation. Neugierig ist er auf November. Dann wird er eine Woche in der Tierpflege im Zoo Zürich schnuppern. Sein Traum ist es, bei den Reptilien zu arbeiten. Grosskatzen wären auch ok. Biologie ist sein Lieblingsfach. Mario besucht eine Privatschule und wird ein elftes Schuljahr anhängen. Dass er, wie viele Jungs in seinem Alter, am liebsten am Computer und im Netz gamt, nervt seine Mutter. Wie alle Mütter. Teresa liegt ihm in den Ohren, dass er mehr aus dem Haus geht. Warum will er nicht wieder Fussball spielen? Mario findet Paintball cool. Teresa hat jahrelang gekämpft, dass er beim Sport mitmachen konnte, dort akzeptiert wurde. Aber die Anonymität im Internet hat Vorteile. Aussehen spielt keine Rolle.

Die Stiftung Chance für das kritisch kranke Kind finanzierte die Kosten für Dr. Regula Wälchli, Ärztin am Kinderspital Zürich, die Mario und seine Eltern auf der ersten Reise nach New York begleitete und betreute und Dr. Milton Waner und Dr. Teresa O in Marios Krankengeschichte einführte.



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