Die Kinder spielen an diesem Dienstagnachmittag im Garten. Timo plantscht im Whirlpool. In einem unbeobachteten Moment hat es die quirlige, eineinhalbjährige Emilia geschafft, über die versperrte Treppe ebenfalls in den Pool zu klettern. Als Timo laut schreit, ist der Mutter sofort klar, dass etwas passiert sein muss. Emilia wird vom eintreffenden First Responder wiederbelebt. Als Anästhesist hat er auch den ortsansässigen Hausarzt avisiert, der den Defibrillator mitbringt. Die Sanität trifft ein. Der Heli der Rettungsflugwacht landet wenig später. Alles geht rasend schnell und verändert das Leben der Familie so plötzlich wie grundlegend. Im Kinderspital Zürich ist der Schockraum vorbereitet. Das Team ist informiert und übernimmt sofort. Emilias Hirn war unter Wasser mit Sauerstoff unterversorgt. Es kam zum Herz-Kreislaufstillstand und zur Schwellung des Hirns. Das Team versucht Emilia zu helfen und die Hirnschwellung mit Medikamenten zu reduzieren. Die Kleine wird künstlich beatmet und in einen Schlaf versetzt.
Emilia lebt weiter
Die Mutter ist im Rettungshelikopter mitgeflogen. Timo wird von seinen Grosseltern abgeholt. Emilias Vater trifft mit dem Auto schliesslich ebenfalls im Kinderspital ein. Auf dem Gang vor dem Schockraum warten die Eltern wie gelähmt auf Neuigkeiten.
Intensivmediziner und Anästhesist Dr. Balázs Ivady tritt zu den Eltern. Am Anfang wirkt er auf sie noch distanziert. Im Laufe der Betreuung von Emilia wird er zu einer wichtigen Stütze. Der Mediziner kann keine genaue Prognose stellen. Das Gehirn oder Teile davon können geschädigt sein. Noch ist ungewiss, was und in welchem Ausmass. Die Entwicklung, gemeint sind die Schädigungen des Hirns, hinke der Zeit nach, erklärt Balázs Ivadi. Will heissen, in den nächsten Stunden und Tagen können weitere Teile des Hirns betroffen werden, da sich der Einfluss des Sauerstoffmangels möglicherweise fortsetzt. Emilia entwickelt bald nach Eintritt ins Kinderspital Krampfanfälle. Sie verheissen nichts Gutes. Es scheint jedoch, dass bei ihr Hirnströme messbar sind. Die Eltern verbringen bange Stunden auf der Intensivstation, wohin die kleine Patientin verlegt wurde. Eine Pflegefachfrau tönt an, dass Emilia nicht mehr so sein könnte, wie sie sie vorher erlebt haben.
Die Pflegenden bemühen sich rührend um Emilia, flechten ihr süsse Schleifchen ins Haar. Die Anspannung ist zum Greifen. Die Ungewissheit macht allen zu schaffen. Wird Emilia wieder gesund? Wie gesund? Wie stark wurde ihr Hirn durch den Sauerstoffmangel geschädigt? Wird sie wieder laufen, sprechen, selbständig essen können?
Tag drei
Um die Situation von Emilias Hirn zu evaluieren, wird eine Magnetresonanztomographie (MRI) durchgeführt. Das bildgebende Verfahren erzeugt durch ein starkes Magnetfeld und Radiowellen eine genaue Darstellung von Organen wie dem Hirn. Dazu muss Emilia in den Untersuchungsraum verlegt werden. Alles wird genau geplant, damit die kleine Patientin möglichst schonend transportiert werden kann. Die drei Tage bis dahin sind für die Eltern eine schwer auszuhaltende Zeit. Sie sitzen am Bettchen von Emilia, übernachten im Kinderspital. Ein Wechselbad der Gefühl lässt sie einmal an der Hoffnung festklammern, dass wie durch ein Wunder alles gut kommen wird. Dann wieder sind sie in grosser Sorge. Dr. Balázs Ivady und sein Team informieren regelmässig, sind in ihren Aussagen aber zurückhaltend. Vielleicht, so hoffen die Eltern, versuchen die Ärzte, ihnen vorerst nicht allzu grosse Hoffnungen zu machen. Immer mehr schleicht sich aber der Verdacht ein, dass die Wortwahl der Ärzte anzeigt, in welche Richtung das Schicksal der kleinen Emilia gehen könnte.
Der Befund des MRI liegt vor. Er gibt zu wenig Hoffnung Anlass. Grosse Teile des Hirns erscheinen als weisse Flächen. Es muss angenommen werden, dass diese Hirnregionen nicht mehr aktiv sind.
Wie geht es nun weiter? Balázs Ivady beschliesst, Emilia aus dem medikamentösen Schlaf aufwachen zu lassen, um eine klinische Untersuchung durchzuführen und ihre Reaktionsfähigkeit zu testen. Er erklärt den Eltern, dass es drei mögliche Szenarien gebe: Emilia bewegt sich, wehrt sich gegen die künstliche Beatmung, wacht auf. Ein gutes Zeichen. Oder: Emilia zeigt nur eine der drei Reaktionen. Oder aber, sie zeigt keinerlei Reaktion. Das würde bedeuten, dass sie schwerstbeeinträchtigt wäre.
Während das Team aus Ärztinnen und Pflegenden Emilia aufwachen lässt, wird ihr Zustand genau überwacht. Bald zeigt sich, dass ihre Vitalwerte schlechter werden und dass die meisten Reflexe erloschen sind. Es wird entschieden, die Therapie fortzusetzen und Emilia wieder in den medikamentösen Schlaf zu versetzen. Leider steht nun fest, dass Emilia, deren Herz tapfer schlägt, einen schweren Hirnschaden erlitten hat. Sie wird ohne Hilfe von Apparaten nicht leben können. Wie lange sie auf diese Weise überlebt, ist ebenfalls ungewiss.
Anderen Kindern Leben schenken
Die Eltern hatten sich in jungen Jahren entschieden, dass sie ihre Organe spenden würden. Nun tritt Dr. Balázs Ivady an sie heran. Emilia könnte über ihren Tod hinaus leben. Ihre Organe könnten anderen Kindern helfen, gesund zu werden. Wie wichtig kindliche Organspenden sind, zeigen lange Wartelisten auch von Kindern, welche sehnlichst auf neue Organe warten. Für das weitere Vorgehen wird die Zusammenarbeit mit Swiss Transplant vorbereitet. Ebenfalls am Samstag ist das Rechtsmedizinische Institut auf der Intensivstation bei Emilia. Die Forensiker sichern Spuren im Zusammenhang mit Emilias Unfall. Einige Zeit nach Emilias Tod werden die Eltern von der Staatsanwaltschaft verhört werden. Die Verhöre sind belastend, jedoch gesetzlich vorgeschrieben. Die Eltern werden in allen Anklagepunkten freigesprochen.
Am Sonntag nehmen Eltern und Angehörige im Kinderspital von Emilia Abschied: «Emilias Tod war ein schrecklicher Unfall. Sie war ein so aufgewecktes und energiegeladenes Kind. Eine Kämpferin. Ihr Kreislauf ist nicht kollabiert, sie hat durchgehalten, bis ihre Organe anderen Kindern gespendet werden konnten. Emilia ging und hat das wohl auch für ihren grossen Bruder getan. Sein Leben, unser Leben als Familie mit einem schwerstbehinderten Kind wäre ein anderes geworden. Wir hätten es geschafft. Aber Emilia hat für uns entschieden.»
Emilia stirbt in den Armen ihrer Mutter
Am Montagmorgen geht Claudia Dobbert vom Care Team des Kinderspitals Zürich auf die Eltern zu. Die Pflegeexpertin ist vom IPS Team informiert worden, hat sich auf das Treffen vorbereitet. Sie begleitet die Eltern an diesem sonnigen Sommertag Ende Juni vom Kinderspital ins Universitätsspital, wo Emilia operiert werden soll. Während die drei den Weg zu Fuss zurücklegen, wird Emilia, begleitet von einer Pflegefachperson und zwei Ärzten des Kispi, mit der Ambulanz transportiert. Eine Kontaktperson von Swiss Transplant ist später im Operationssaal dabei und wird den Vorgang überwachen. Während Claudia Dobbert mit den Eltern auf Emilias Eintreffen wartet, kommen Erinnerungen an die quirlige Kleine hoch. Die Eltern sind gefasst, unendlich traurig. Heute werden sie ihre Tochter verlieren. Das steht unabänderlich fest.
Vorgesehen ist, dass die Therapie, also die Beatmung und die Medikamente, welche Emilia am Leben erhalten hat, beendet wird. Die Mutter hat gewünscht, dass Emilia in ihren Armen sterben darf. Die Teams von Kinderspital und Universitätsspital ermöglichen diesen Wunsch, der mit Aufwand verbunden, aber verständlich ist. Emilias Herztod wird um die Mittagszeit festgestellt. Gemeinsam mit Claudia Dobbert vom Care Team kehren die Eltern ins Kinderspital zurück. Im Garten setzen sie sich zusammen, besprechen die Eindrücke des Tages. Letzte Fragen werden beantwortet. Emilia ist gegangen. Ein bisschen wird sie in anderen Kindern weiterleben. Unvergessen bleibt Emilia ganz gewiss.
Das Care Team des Kinderspitals wird von der Stiftung Chance für das kritisch kranke Kind finanziert. Es leistet psychosoziale Unterstützung für Angehörige von schwerverletzten oder sterbenden Kindern. Die Stiftung Chance bezahlt die Einsätze der Mitarbeiterinnen des Care Teams, welche diese anspruchsvolle Aufgabe freiwillig übernehmen.
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