Manchmal sitzen sie beim Nachtessen und erwarten für eine Millisekunde, dass Jelle gleich zur Tür hereinschiesst und sich entschuldigt, weil er zu spät kommt. Dann fällt es ihnen wieder ein.
An diesem Samstag, gegen Ende der Herbstferien, fährt Jelle mit seinem Freund in den benachbarten Ort. Jelle ist 14 Jahre alt. Der Teenager ist begierig, etwas zu unternehmen. Die beiden Jungs essen Burger. Danach ist ihnen langweilig. Jelle schlägt vor, den Güterbahnhof zu erkunden. Behände wie ein Kletterer, sich mit Händen und Füssen zwischen zwei Waggons hochziehend, schafft es Jelle auf einen Güterwagen.
Sein Freund hört unten nur den Knall. Verbrannte Kleider fliegen durch die Luft. Er sieht Jelle verletzt auf dem Güterwagen liegen und rennt verzweifelt los, um Hilfe zu holen. Der erste Rangierarbeiter versteht kein Deutsch. Dann gelingt es, den Notruf abzusetzen. In wenigen Minuten sind Polizei und Notarzt vor Ort. Allerdings müssen sie Jelle erst suchen. Er ist inzwischen vom Güterwagen gestürzt. Dem Polizisten, der ihn findet, bietet sich ein schreckliches Bild. 85% von Jelles Haut ist verbrannt. Er hat Verbrennungen dritten und vierten Grades. Aber Jelle ist bei Bewusstsein, ansprechbar. Er fühlt kaum Schmerz. Bei so starken Verbrennungen sind die Nervenenden verbrannt. Jelle buchstabiert dem Polizisten sogar seinen für Schweizer Ohren ungewohnten niederländischen Namen.
Seine Eltern und Schwestern wollen an diesem Nachmittag eine Radtour unternehmen, als es an der Tür klingelt. Mutter Hilde fällt auf, wie sich der Polizist und die Psychologin von der Krisenintervention zu ihnen ins Haus drängen. Dort erfahren die Eltern, dass Jelle einen Unfall gehabt hat und mit der Rega ins Kinderspital Zürich unterwegs ist. Rasch werden Bekannte organisiert, die sich um Jelles jüngere Schwestern kümmern. Die Psychologin fährt die Eltern nach Zürich. Sie wissen nicht, ob Jelle noch lebt.
Im Kinderspital wird Jelle sofort operiert. Um halb elf Uhr nachts tritt das Ärzteteam zu den Eltern. Auch wenn Jelle nicht mit der Starkstromleitung in Berührung gekommen sein mag, wurde ein Stromschlag ausgelöst. Er ist der Grund für die schweren Verbrennungen, die Jelle erlitten hat.
Die Eltern dürfen ihren Sohn sehen. Jelle liegt in ein künstliches Koma versetzt auf der Intensivstation und ist vollständig einbandagiert. Nur sein Gesicht – wie durch ein Wunder unverletzt – guckt aus den Verbänden. Die Eltern schöpfen Hoffnung. Jelle hat überlebt. Er hat es geschafft. Er ist in besten Händen. Wir werden damit fertig. Die Eltern beziehen ein Elternzimmer im Kinderspital. Es wird für fünfeinhalb Wochen ihr Zuhause.
Ärzte, Pflegefachleute, Anästhesisten, Psychologen, Sozialarbeiter, die Physiotherapeutin – die Eltern wissen oft nicht, wer ihnen gerade gegenübersteht. Claudia Dobbert, die Leiterin des Care Teams am Kinderspital, und die auf Wundpflege spezialisierte Pflegefachfrau Johanna Degenhardt bleiben an ihrer Seite, erklären, helfen.
Zuhause wechseln sich Verwandte aus Holland ab und kümmern sich um Jelles Schwestern. Es stellt sich die Frage, wie sie über Jelles Situation informiert werden sollen. Vor allem Roos leidet. Ihr Bruder ist auch ihr bester Freund. Damit sich die beiden Mädchen keine falschen, vielleicht viel schlimmere Vorstellungen machen, dürfen sie ihren Bruder im Kinderspital besuchen. So ist Roos im Zimmer, als Jelle in der zweiten Woche aufwacht. Er schlägt die Augen auf – und ist wieder da. Ein glücklicher Moment für die ganze Familie.
Regelmässig wird Jelles verbrannte Haut entfernt und mit im Labor gezüchteter und eigener Haut ersetzt. Es läuft nach Plan, auch wenn noch viele Operationen folgen sollen. Gegen Ende der zweiten Woche muss Jelle nicht mehr beatmet werden. Er darf aufwachen und ist fast sofort völlig klar. Der Stromschlag hat sein Hirn nicht verletzt. Noch ein hoffnungsvoller Moment für die Familie. Jelle lässt seinem Freund ausrichten, dass er sich keine Vorwürfe machen soll. Es war Jelles Idee, auf den Güterwaggon zu klettern.
Es gibt Komplikationen. Die Ärzte können Jelles verbrannten Fuss nicht retten. Wieder arrangieren sich die Eltern mit dem Möglichen, halten an ihrer Hoffnung fest. Jelle wird auch mit einer Prothese Snowboard fahren können. Tatsächlich verbessert sich sein Zustand nach der Amputation.
Wenn die Haut ihre schützende Wirkung nicht wahrnehmen kann, ist das Infektionsrisiko hoch. Jelle bekommt deshalb immer wieder Antibiotika. Seine Lungen haben Probleme. Dr. Clemens Schiestl, Leiter des Zentrums für Brandverletzte Kinder am Kinderspital Zürich, gibt den Eltern zu verstehen, dass man möglicherweise «mit dem Rücken zur Wand» stehe. Doch Jelle kämpft.
An einem Donnerstag im November feiert Roos ihren dreizehnten Geburtstag. Jelle will ihr unbedingt ein Geschenk machen und bittet die Mutter, für Roos eine Handyhülle zu kaufen. Er kann seine rechte Hand bereits wieder bewegen und überreicht ihr das Geschenk sogar selbst. Jelle strahlt dabei, freut sich, dass ihm die Überraschung gelungen ist. Roos’ Geburtstag ist Jelles letzter wacher, glücklicher Moment.
Die Haut, die Jelle bereits implantiert wurde, entzündet sich. Zwei Tage später, es ist Samstag und seit dem Unfall sind fünf Wochen vergangen, hat er Luft um die Lunge, dann auch Wasser. Eine schwere Lungenerkrankung wird diagnostiziert. Jelle wird wieder beatmet. Jetzt muss er seine ganzen Abwehrkräfte mobilisieren. Weil sich Jelles Zustand übers Wochenende nicht verbessert, wird am Montag auf eine weitere Hauttransplantation verzichtet. Auch am Dienstag hat sich die Lunge nicht erholt. Dann versagt die Niere, später weitere Organe.
Nachdem Eltern und Schwestern ihren Jelle fünf Wochen lang beschworen haben – du schaffst es, Jelle, kämpf! – ist der Moment da, ihn gehen zu lassen. Eltern und Schwestern stehen um sein Bett, halten ihn und sich bei den Händen und lassen ihn wissen: Du darfst aufgeben, Jelle, du darfst gehen.
Jelles Familie versucht, mit seiner Abwesenheit umzugehen. Es gibt glückliche Momente, in denen sie für eine Millisekunde vergessen, dass Jelle nicht mehr da ist.
Das Care Team betreut Angehörige kritisch kranker Kinder. Es übernimmt für Eltern verstorbener Kinder die vielen administrativen Dinge, die bewältigt werden müssen. Das Care Team im Kinderspital Zürich wird ausschliesslich durch die Spenden der Stiftung Chance finanziert.